Wäre Bruno gestern Abend umgedreht und nach Hause gelaufen. Das war schon ein echt starkes Stück von Wilhelm. Futtert er einfach so den Krümelkuchen auf. Aber Bruno kann ihn irgendwie auch verstehen. Den ganzen Tag mit dem Beutel vor der Nase herum laufen – da wäre er selbst bestimmt auch schwach geworden. Trotzdem schmollt er noch ein wenig weiter. Wer weiß, ob er dieses Jahr überhaupt noch ein Stück bekommt.
Ferdinand zieht es derweil vor, den Rest der Strecke auf Wilhelms Rücken zu verbringen. Dort kuschelt er sich tief in das zottelige Fell ein und schont seine zarten Hasenpfoten.
Und Wilhelm? Der trottet stumm mit tief hängendem Kopf neben Bruno den fünften Berg hinauf. Das schlechte Gewissen ist ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Wie soll er das bloß wieder gut machen?
„He, schaut mal! Der Gipfel!“ Aufgeregt greift Ferdinand nach Wilhelms Ohren und zieht seinen Kopf mit einem kräftigen Ruck nach oben.
„Au!“
„Aber guck doch! Wir sind oben!“
Wilhelm schüttelt seinen Kopf. „Lässt du endlich los? Ich seh doch jetzt den Gipfel!“
„Ist ja schon gut.“ Ferdinand springt von Wilhelm herunter und hoppelt die letzten Meter auf seinen Hasenpfoten hoch zum Gipfelkreuz. „Was für ein Ausblick! Das ist ja noch viel besser als auf den anderen Bergen!“ Ferdinand bestaunt ihren bisherigen Weg. Sie sind mit Abstand auf dem höchsten der Sieben Berge. „Schaut, da hinten ist die knorrige Eiche von gestern.“
Ein leises Grummeln von Wilhelm und Bruno, die mittlerweile auch oben angekommen sind.
„Und da die Apfelbäume von heute Morgen. Und da unten im Tal schlängelt sich ein Fluss. Haben wir den überquert? Egal.“ Ferdinand dreht sich Richtung Westen. „Und da die anderen beiden Berge. Dann ist das hier ja der letzte Gipfel vor dem Meer.“
Wilhelm schaut nach Norden. Ganz hinten am Horizont ist doch ein schmaler dunkelblauer Strich. Und davor ein schmaler Gelber. Er blinzelt ein paar Mal, kneift die Augen konzentriert zusammen. „Ist das das Meer?“
Bruno zuckt mit den Schultern.
Ferdinand springt wieder auf Wilhelms Rücken, stellt sich kerzengerade hin, rollt seine Löffel wie zu einem Fernglas zusammen und guckt hindurch. „Hmm, sieht wohl so aus.“
Wilhelm schiebt seinen Kopf ein Stück weiter nach vorne, in der Hoffnung mehr zu sehen zu. Doch es bleibt bei den dünnen dunkelblauen und gelben Strichen.
Er weiß gar nicht, ob er sich freuen soll, wenn das wirklich das Meer ist. Jetzt ist er so viele Jahre unterwegs. Was, wenn die Kuh weiter gezogen ist? Oder wenn sie schon längst gestorben ist? Dann war der ganze Weg umsonst.
„Na dann lasst uns mal weiter. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es heute noch den Berg hinunter, bevor es dunkel wird“, fordert Bruno und schiebt in Gedanken hinterher: „Und umso schneller sind wir wieder zu Hause und ich bekomme endlich meinen Krümelkuchen.“
Ferdinand zieht an Wilhelms Ohren wie ein Reiter an den Zügeln seines Pferdes. „Auf, auf zur bunten Kuh!“
„Halt! Halt!“
Bruno schreitet weiter voran, als hätte er nichts gehört. Jetzt bloß nicht aufhalten lassen.
„Nun wartet doch auf mich!“
Ferdinand und Wilhelm drehen sich, aber auf dem Gipfel ist niemand zu sehen.
„Nein, hier oben!“
Ein grauer Punkt fliegt auf sie zu. In rasendem Tempo wird er größer, kommt dichter und dichter. „Eigentlich sollte er so langsam sein Tempo drosseln, wenn er landen möchte“, überlegt Ferdinand.
„Oh. Vorsicht! Platz da!“
Wilhelm und Ferdinand springen zur Seite. Der graue Punkt fliegt an ihnen vorbei, stellt seine Flügel senkrecht auf, stößt mit dem rechten Flügel gegen einen jungen Baum ... „Au!“ ... kommt ins Trudeln, stößt mit dem linken Flügel gegen einen zweiten jungen Baum ... „Uff“ ... trudelt ein Stück den Berg hinunter und kommt direkt hinter Bruno zum Stehen.
Bruno lässt sich gar nicht stören und geht einfach weiter.
„He, bleibst du jetzt endlich mal stehen!“
Bruno erstarrt, dreht sich langsam um und sieht ... eine winzige Taube.
„Ich will dir doch nur etwas geben.“ Mit ihrem Schnabel stochert sie an ihren Füßen herum.
Bruno sieht ihr ratlos zu. Ihm etwas geben? Was soll das sein? Er erwartet doch gar nichts.
Da löst sich etwas. „Na endlich. Hier.“ Die Taube schiebt ein großes zusammen gerolltes Blatt zu Bruno rüber. „Das ist für dich. Eine Eilsendung.“
„Aber von wem denn?“
„Guck rein, dann weißt du es.“ Und schon ist sie wieder in die Lüfte verschwunden – diesmal ohne Feindkontakt.
Bruno rollt das Blatt auseinander. Ach, wie schön! Eine Nachricht von Zirkuspony Elisa. Sie kommt tatsächlich zur Zirkusvorstellung und singt ihr Nikolaus-Lied. Bruno liest ein zweites Mal. Hat er irgendwo ein nicht überlesen? Nein. „Wie toll! Sie kommt, Ferdi“, ruft Bruno den Berg hinauf. „Sie kommt. Elisa kommt. Sie studiert sogar noch ein zweites Lied ein.“
Ferdinand rollt mit den Augen. „Wie toll“, antwortet er wenig überzeugend.
„Ach, das wird eine richtig tolle Zirkusvorstellung.“ Zufrieden rollt Bruno das Blatt zusammen. „Jetzt aber Beeilung. Wir müssen schnell die bunte Kuh finden und dann zurück nach Hause. Wir müssen doch unsere Manege fertig bauen. Und Krümelkuchen essen.“ Pfeifend dreht er sich um und tanzt den Berg hinunter.
Wilhelm ist erleichtert. Endlich lacht Bruno wieder. Hoffentlich steht der Krümelkuchen nicht mehr zwischen ihnen.